Utopia bleibt (vorerst) Utopie
(fi) Ein König, der erstens seine Triebe nicht unter Kontrolle hat, zweitens krampfhaft versucht, einen männlichen Nachkommen zu zeugen – was ihm vielleicht nur deshalb nicht gelingt, weil er an Syphilis leidet –, drittens eine verknöcherte Kirche, die sich beharrlich weigert, eine Ehe zu scheiden: Das waren die Zutaten, die dazu führten, dass Thomas More (* wahrscheinlich 7. Februar 1478 in London; † 6. Juli 1535 ebenda), einer der brillantesten Denker im England des 15./16. Jahrhunderts, auf dem Schafott landete. – Und dabei noch Glück hatte, nur geköpft zu werden. Nicht gehängt, ausgeweidet und gevierteilt, wie es damals üblich war.[1]
»Wer kein Morus-Spezialist ist«, formulierte ein Biograph, »weiß von Thomas Morus nur zwei Dinge: Er schrieb ein Buch mit dem Titel ›Utopia‹, und er wurde geköpft.«
Dieses eine Buch aber hat gewaltige Wirkung hinterlassen. Es ist die erste ›Sozialutopie‹, und wurde zum Vorläufer eines ganzes Genres. More, der es im Alter von 37 Jahre in lateinischer Sprache schrieb, schildert darin einen aus seiner Sicht idealen Staat, – den man auch als Parodie und Gegenentwurf zum damals realen England sehen kann.
Sozialistische Züge hat der Entwurf, und wurde so auch zu einem immer wiederkehrenden Motiv und Vorbild für politische Ideale und Ziele. Denn die Utopier kennen kein Privateigentum: Auf ihrer Insel herrscht eine Art Kommunismus: Die Interessen des Einzelnen sind denen der Gemeinschaft untergeordnet. Jedermann hat zu arbeiten; jedermann bekommt Bildung und genießt religiöse Toleranz. Grund und Boden sind Gemeinbesitz – anders als in der Realität der damaligen Zeit.
More war daran gelegen, die ungerechte Chancen-, Macht- und Geldverteilung der realen Welt anzuprangern, die damals, genau wie heute, besonders deutlich wurde. Sein Werk ist ein Versuch, einen Weg zur Verteilungsgerechtigkeit aufzuzeigen. So entwirft er also das Charakterprofil einer Gesellschaft, wie sie theoretisch sein könnte. Es war das Gedankenexperiment eines genialen jungen Politikers. Alleine durch die Kraft seiner Imagination erreichte er damit mehr, als er wohl selbst für möglich gehalten hatte – nämlich als Vorbildgeber und Inspirationsquelle für viele nach ihm Kommende.
Gleichzeitig war More natürlich auch ein Vertreter des Londoner ›Establishment‹. Als Sohn des Anwalts und Richters John More (um 1450–1530) und dessen Frau Agnes besuchte er ausgezeichnete Schulen, studierte in Oxford und wurde selbst erfolgreicher Rechtsanwalt. Bereits 1504 war er Parlamentsmitglied und später sogenannter ›Undersheriff‹ von London. Als solcher vermittelt er 1517 bei den Mai-Unruhen, die Shakespeare und seine Kollegen im Theaterstück ›Sir Thomas More‹ aufgriffen.
Mit 39 Jahren trat More in den Dienst Königs Heinrich VIII., der ihn auf diplomatische Missionen schickte. 1523 wurde der inzwischen zum Ritter geschlagene More zum Parlamentssprecher gewählt. All dies schützte ihn jedoch nicht vor der Rache des Königs, die ihn rund zehn Jahre später aufs Schafott bringen sollte.
Warum aber dieser sinnlose Tod?
Anne Boleyn, die aktuelle Favoritin von König Heinrich VIII., verweigerte sich diesem als Mätresse. Bevor sie ihm Sex gab, sollte er sie heiraten. Das war nicht so leicht möglich, denn Heinrich befand sich noch im Stand der Ehe, und zwar mit Katharina von Aragón. Scheidungen waren nicht vorgesehen, und Heinrich VIII. drängte auf eine Sondergenehmigung des Papstes und der katholischen Kirche.
Doch die Kirche schaltete auf stur und stimmte der Scheidung nicht zu. Heinrich VIII. zwang seine hohen Beamten und Minister, ein Dekret zu unterschreiben, den Act of Succession. Darin sollte unter anderem die Legitimität aller Kinder, die Heinrich und Anne Boleyn geboren würden, anerkannt werden. Thomas More, ein treuer Anhänger der katholischen Kirche, verweigerte die Unterschrift. Wenig später wurde er zum Tode verurteilt.
Diese lapidaren Gründe eines von Hybris besetzten Herrschers waren es also, die zur Hinrichtung eines der brillantesten Denkers seiner Zeit führten. Thomas More aber gab nicht klein bei und begegnete sogar seinen Henkern noch mit Ironie: »Als der Kronanwalt dem Häftling, zum Zeichen des beschlossenen Todes, Bücher, Manuskripte, Papier und Tinte wegnahm, verdunkelte More am helllichten Tag seine Zelle im Tower von London mit den Worten: ›Wenn Ladentisch und Handwerkszeug fortgeholt werden, ist es Zeit, das Geschäft zuzumachen.‹«[2]
Und den Scharfrichter soll er bei seiner Hinrichtung ermahnt haben, beim Zuschlagen mit dem Beil auf seinen Bart zu achten, da dieser ja nicht Hochverrat begangen habe. Morus’ Kopf wurde einen Monat lang auf der London Bridge zur Schau gestellt, bis seine Tochter Margaret ihn gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes herunternehmen durfte.
Geblieben ist von Thomas More die Urform des utopischen (Staats-) Romans, der bis heute viele Nachfolger gefunden hat. ›Utopia«, aus griechisch ›ou‹ (nicht; kein) und ›topos‹ (Ort), der Nicht-Ort also, und gleichzeitig ein lautmalerisches Wortspiel mit ›eu–topos‹, der ›gute Ort‹, findet sich seit More immer wieder in der Literatur, unter verschiedenen Namen und an verschiedenen Orten.
Frühe Adepten dieses Genres waren Tommaso Campanella (1568-1639) mit ›La citta del sole‹ und Francis Bacon mit ›Nova Atlantis‹ (1627). Später werden Jonatan Swift inspiriert wie auch Gottfried Schnabel. Selbst die Robinsonaden späterer Jahre zeigen gelegentlich Anlehnungen an Mores Werk. Und die Reihe lässt sich fortsetzen bis zu den Dystopien von Huxley und Orwell zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
© Armin Fischer, 2016
__________
Anmerkungen:
[1] Das ›Hängen, Ausweiden und Vierteilen‹ (engl.: ›Hanged, drawn and quartered‹) war eine in England gängige Hinrichtungsart für Hochverrat und Falschmünzerei. Verhängt wurde sie von einem von der Krone eingesetzten Gerichtshof für Kapitalverbrechen. Diese Form der Todesstrafe wurde in der englischen Rechtsprechung erst 1870 abgeschafft.
[2] Zitiert nach Rudolf Augstein, im Beitrag ›Utopia‹ der ›Zeit-Bibliothek der 100 Bücher‹.
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