200 Jahre Frankenstein
(fi) Der indonesische Vulkan Tambora spuckte nach einem gewaltigen Ausbruch – der größten Vulkan-Eruption seit 20.000 Jahren – Millionen Tonnen Asche in die Atmosphäre und sorgte für das legendäre ›Jahr ohne Sommer‹, 1816 schrieb man. In der Schweiz, in einer Villa am Genfer See, traf sich eine sinistre Runde, die man, je nach Blickwinkel, als dekadente literarische Spinner oder als geniale Vorfahren der Hippies bezeichnen könnte. Im Zentrum der Gruppe: Mary Shelley, die spätere Autorin des Frankenstein.Weil das Wetter so unselig war, und überhaupt nicht zu Bergtouren und Spaziergängen einlud, verstieg man sich noch mehr in literarische Exkursionen, als es in dieser Gemeinschaft intellektueller Schöngeister ohnehin üblich war. Man schloss einen Pakt, dass sich jeder der Beteiligten an einer Schauer- oder Horrorgeschichte versuchen sollte, inspiriert von ›Fantasmagoriana‹, einem populären Gespensterbuch, das sie gerade gelesen hatten. Dieser Pakt brachte zwei erstaunliche Werke hervor: einen direkten Vorgängen von Bram Stokers legendärem Dracula, und Mary Shelleys Frankenstein.
Das klingt jetzt, als ob sich literarischer Erfolg minutiös planen ließe – doch damit würde man einem oberflächlichen Irrtum erliegen. In der Nachbetrachtung stellt man fest: Bei einer Frau wie Mary Shelley, die Zeit ihres Lebens so viel geschrieben hat, die rastlos als Autorin und Herausgeberin eigene und fremde Texte publizierte, die für das Wort und mit dem Wort lebte, war es einfach naheliegend, dass wenigstens einer ihrer Gedanken Eingang in die Allgemeinkultur fand. Bemerkenswert war allerdings Mary Shelleys Alter, als sie Frankenstein schrieb: sie war gerade 20.
Zurück zur Runde am Genfer See: Wer waren die bohèmehaften Hippies, die da zusammen in den Tag lebten, und sich ihren literarischen Ergüssen hingaben? Der bekannteste zur damaligen Zeit war Lord Gordon Byron, bisexueller Exzentriker und Künstler, der mit seinem sogenannten Leibarzt Dr. John Polidori, ein gerade mal einundzwanzig Jahre alter Kerl, angereist war. Byron hatte die Villa Diodati am Genfer See gemietet, in der sich die sinistre Runde traf. Dabei auch Claire Clairmont, Mary Shelleys Schwester, die von Byron schwanger war. Dieser wollte aber davon nicht mehr allzuviel wissen, und machte stattdessen Mary Shelley Avancen, ungeachtet dessen, dass auch deren Ehemann Percy Shelley zugegen war. Der wiederum zeigte überdurchschnittliches Interesse an Claire.
Ein munteres, sexuell ausschweifendes Luxusleben spielte sich da also ab, das auch Vorlagen für andere Stoffe wie ›Das große Fressen‹ oder ›Der Reigen‹ hätte liefern können.
Von all jenen literarischen Versuchen der Gruppe, die in jener Zeit entstanden, war Frankenstein das bei weitem folgenreichste. Zunächst nicht unbedingt das erfolgreichste. Es dauerte eine Weile, bis Mary Shelley einen Verlag für das zwielichtige Werk mit seinen teils blasphemischen Inhalten gefunden hatte. Das Londoner Verlagshaus Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones brachte das Buch schließlich im Januar 1818 auf den Markt, als dreibändiges Werk, in einer Auflage von 500 Stück, zu einem Preis von 16 1/2 Schilling – für viele Menschen war das damals ein halber Wochenlohn und kaum erschwinglich: jedoch der übliche Preis für Bücher.
Auf Grund der hohen Preise gab es damals noch keinen Massenmarkt für Bücher, doch etwas anders Bemerkenswertes geschah: Die Populärkultur, wenn man sie schon so nennen kann, entdeckte Frankenstein – und plötzlich gab es zahlreiche Adaptionen des Themas für das große Theater, ebenso wie für heruntergekommene kleine Wanderbühnen. So passierte es, dass Mary Shelley am 29. August 1823, am Abend vor ihrem 26. Geburtstag, im English Opera House ein Stück mit dem Titel ›Presumption; or, The Fate of Frankenstein‹ sah: Eindeutig eine Kopie ihres Buches. Sie fühlte sich nicht betrogen, sondern schrieb an einen Freund: »Aber siehe da! Ich fand mich berühmt! …«
Es war eine Zeit, in der es keinen Urheberrechtsschutz gab, der die Adaption und Weiterverwendung einschränkte. Jeder konnte sich also an dem Stoff bedienen. Im Jahre 1826 wurden bereits rund 15 verschiedene Dramatisierungen des Frankenstein-Stoffes gespielt, diesseits und jenseits des Ärmelkanals.
Für einen Autor ist es eine ernüchternde Erfahrung zu sehen, wie andere an seinem geistigen Eigentum profitieren und man selbst leer ausgeht. Andererseits, erklärt Hans Schmid, in einem bemerkenswerten Essay für Telepolis, hat Frankenstein die laxe Auslegung des Urheberrechts wahrscheinlich auch genutzt: Denn nachdem Mary Shelleys zweiter Verleger Richard Bentley das Buch eine Weile auf den Markt gebracht hatte (von 1831 – 1849), verzichtete er später auf eine weitere Auflage, gab aber andererseits die Rechte nicht frei – sodass das Buch nach den damaligen Gesetzen mindestens zwei Jahrzehnte lang nicht offiziell nachgedruckt werden durfte.
Ohne die populären Frankenstein-Adaptionen im Theater wäre das Werk möglicherweise heute vergessen, und nie wieder aufgelegt worden. Und man kann nur spekulieren, wie vielen großen literarischen Würfen es in der Tat so ergangen ist. Hans Schmid: »Wenn man das weiterdenkt, lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, dass Frankenstein heute zu den vergessenen, längst nicht mehr gedruckten Werken der Weltliteratur gehören würde, wenn es bei Bühnenadaptionen einen Schutz des geistigen Eigentums von Romanschriftstellern gegeben hätte.«
Was man bedenken sollte: Das Bild von Frankenstein, das wir heute im Kopf haben, ist geprägt von diesen Theaterstücken, an denen sich wiederum viele spätere Kinostoffe orientierten. Es tauchen darin Versatzstücke, Personen und Schauplätze auf, die sich ›kreative‹ Dramaturgen aus den Fingern saugten, um den Massengeschmack (noch) mehr zu befriedigen. Wer den echten Frankenstein, also Mary Shelleys Buch liest, wird über die psychologische Vielschichtigkeit und literarische Tiefe erstaunt sein. – Andererseits war diese wirkliche Qualität des Buches wahrscheinlich genau der Grund, warum es von Beginn an so viele Leser in seinen Bann ziehen konnte.
Wie viele andere Bücher wurde auch Frankenstein erst nach dem Tod der Autorin (1851) zu einem echten Erfolg: Nach dem Auslaufen des Urheberrechtsschutzes veröffentliche der Verlag Routledge ab 1882 drei verschiedene Ausgaben, die es schon im ersten Jahr auf eine höhere Frankenstein-Auflage brachten, als alles, was bis dahin gedruckt worden war – nicht zuletzt wegen der nun erschwinglichen Buchpreise. Nun begann der wahre Aufstieg des Frankenstein, bis zum heutigen Tag.
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