Highway No. 1 Revisited
(fi) Henry war ein durchgeknallter Kerl, der erste echte Freak, der mir begegnete, obwohl ich schon eine ganze Weile unterwegs war. Er fuhr die California State Route 1, die legendäre Küstenstraße in Kalifornien rauf und runter, im Kofferraum hatte er alte, verrostete Gartengeräte. Bei Villen, die nach Geld rochen, hielt er an, läutete, und fragte, ob er im Garten arbeiten könne.
Das war nicht das Freakige an ihm, denn gegen diesen Job ist nichts einzuwenden. Es war die Art, wie er sprach, wie er angezogen war, und, zum Beispiel, wie er tankte: Er zog eine Kreditkarte hervor, sagte augenzwinkernd zu mir: »Das ist eigentlich nicht meine. Ich hab sie ›gefunden‹. Aber sie wird’s tun!« Es klappte tatsächlich. In einer Zeit, als noch nicht jeder Bezahlvorgang online verfolgt wurde und man einer Kreditkarte noch vertraute, konnte man damit weit kommen.Der Wagen war ein alter Chevi, der mausgrau und unauffällig gewesen wäre, hätten da nicht auf der Motorhaube und den Türen die psychedelischen Airbrush-Malereien geleuchtet, die an ein Plattencover der texanischen Band ›13th Floor Elevators‹ aus den 60er Jahren erinnerten. Die Kunstwerke waren in die Jahre gekommen und platzten an allen Ecken und Kanten ab.
Henry trug ein Hemd, bei dem einem vom Hinschauen schwindlig wurde, auch so ein psychedelisches verschlungenes Muster – so als ob das Hemd selbst sich gerade auf einem heftigen LSD-Trip befinden würde. Der Kragen aber war vornehm und viktorianisch, ein Stehkragen, wie er bei den Londoner Hippies der 60er Jahre beliebt war, besetzt mit goldenen Sternen. An den Kragen stießen die lockigen, ungewaschenen Haare, die genauso blond strahlten, wie der kleine, zurechtgestutzte Schnauzbart. Der ganze Rest von dem Kerl war ziemlich abgerissen. Die Jeans war so steif und abgewixt, dass man Angst hatte, sie würde zerbrechen, wenn er sich hinsetzte, und die überdimensionale Ray-Ban war am linken Scharnier mit einem gelben Tape zusammengeklebt.
So fuhren wir also die State Route 1 runter, Richtung L.A.. Mitte der 80er Jahre war das, und ich ein Teenager, gerade mal volljährig, auf meinem ersten Trip in die Staaten.
Irgendwann hielt Henry spontan an der Steilküste an, ganz aufgeregt. »Sieh mal, die Kolonie von Seelöwen da unten, die muss ich mir unbedingt ansehen«. Die Felsen zur Rechten brachen jäh nach unten weg, zweihundertfünfzig Meter fast senkrecht in die Tiefe. »Bleib du im Wagen!« Er schnappte sich seine alte ›deutsche‹ Kamera, wie er sie nannte, und begann, den steilen, felsigen Abhang hinabzuklettern. Für eine Weile geriet er ausser Sicht.
Ich ging um den Wagen herum, schaute aufs Meer, und setzte mich dann ans Steuer. Der Schlüssel steckte. Einmal herum drehen, und die alte Schrottkiste würde sanft und langsam mit mir die Küstenstraße weitergleiten. Die geklaute Kreditkarte steckte im Handschuhfach. Dass ich noch keinen Führerschein hatte, störte mich weniger. Fehlender Mumm oder Skrupel hielten mich zurück – oder beides. Und ich wartete brav, bis Henry, schnaufend, schwitzend und glücklich, wieder oben angekommen war. – Nachher hatte ich Schuldgefühle, weil ich überhaupt so einen gemeinen Gedanken ins Kalkül gezogen hatte …:(
Später fand Henry einen neuen Gärtner-Job in einer Villen-Gegend abseits des Highways, und ich wurde an einer Kreuzung von Frank mit seinem alten Geländewagen aufgegabelt. Es war Abend, und er bot mir an, in seinem Holzhaus am See zu übernachten. Es versprach, ein netter Männerabend zu werden. Frank war auch ein Alt-Hippie, genau wie Henry. Er knackte zwei Budweiser auf und schickte sich an, ein wenig Weed auszugraben, als die Tür aufflog, und Mona hereinkam. Sie trug ein blaues Business-Kostüm, eine schmale Perlenkette, hatte eine Figur wie Beyoncé und einen Mund wie Angelina Jolie. Recht bedacht, war sie die schönste Frau, die ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte. Sie war die Ehefrau des Hippies. Nun begann die Nacht erst richtig, aber das ist eine andere Geschichte …
Das alles fiel mir wieder ein, als ich jetzt den unglaublichen Bildband ›Hippies‹ der Rolf Heyne Collection durchblätterte. Dieser Band geht noch einmal 20 Jahre weiter zurück, in die Jahre 1965 bis 1971, zu den Ursprüngen der Hippie-Bewegung, während das, was mir in den 80ern begegnete, die letzten Überreste waren.
Doch ›Bildband‹ ist eigentlich nicht richtig. Der unglaublich detailversessene und fundierte Text von Barry Miles lässt erkennen, dass es aus heutiger Sicht eine Wissenschaft ist, die unterschiedlichen Strömungen, Nuancen, Philosophien und meinungsbildenden Gruppen, die in dieser bis heute stilprägenden Epoche diffundierten und wieder verschmolzen, zu sondieren, zu verorten und zu bewerten. Der Text erreicht also teilweise das Niveau einer wissenschaftlichen Analyse, während die psychedelischen Bilder schwerelos dazwischen hinschweben.
Der Autor, Barry Miles, ist einer der profundesten Kenner der Szene. Er war, so fasst es der Klappentext zusammen, »als Mitgründer des legendären Londoner Buchladens ›Indica‹ und der ›International Times‹ eine zentrale Figur der Hippie-Bewegung und wirkte als britischer Verbindungsmann für US-Hippie-Größen wie Frank Zappa, Allen Ginsberg und The Fugs … Bei der bahnbrechenden ›All You Need Is Love-Livesendung der Beatles 1967 war er ebenso dabei wie beim Foto-Shooting für das Cover von ›Sgt. Peppers´s Lonely Hearts Club Band‹ …«
Die englische Originalausgabe von Miles’ Buch erschien 2003 bei Cassell Illustrated und die Collection Rolf Heyne, bei der Qualität und Inhalt immer vor Kommerz geht, hat den Band dankenswerterweise hierzulande auf den Markt gebracht. Einen Teil der Übersetzungen übernahm übrigens der Münchner ›Hippie-im-Geiste‹ und Literat Michael Sailer. Ein exzellentes Buch, zum Anschauen und Lesen.
Hippies
Barry Miles
Collection Rolf Heyne (2. Auflage 2008)
ISBN: 978-3899102574
Bildnachweise:
[1] Plattencover, verlinkt zu amazon.de
[2] State Route One-Panorama, CC-Lizenz, Autor Tewy, Wiki-Commons
[3] Buchcover, verlinkt zu amazon.de
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