Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch | Ein gar nicht aktueller Beitrag zur Frankfurter Buchmesse
(armin fischer) 5. Oktober, abends: Die Frankfurter Buchmesse wird wieder einmal mit großem Tamtam eröffnet. Sie wird auch dieses Jahr vor allem demonstrieren: Das Buch ist nicht tot, das Buch ist mächtig, das Buch ist ein unauslöschliches Stück Kultur. Das stimmt alles; ein wenig verschwiegen wird dabei aber, dass ein Großteil der Neuerscheinungen billige Fast-Food-Produktionen sind, schlechtes Papier, Pappeinband, lieblose Aufmachung – denn die Verlage kalkulieren knapp. Und die Entwicklung geht natürlich Richtung eBook, denn dort hat man irgendwann, wenn die Systeme und die Software richtig eingependelt sind, Herstellungskosten von Null.
Als Kontrapunkt darum nun die Vorstellung eines ›echten‹ Buches, das kein virtueller Schnickschnack ist, sondern zuerst einmal ein haptisches Vergnügen bereitet, wenn man es anfasst: Der 2009 im mare-Verlag erschienene ›Atlas der abgelegenen Inseln‹ von Judith Schalansky, den es seit wenigen Tagen nun auch in der englischen und französischen Übersetzung gibt. Dazu weiter unten, ein Interview mit der Autorin.
Wiewohl, es ist kein Atlas für den Geographieunterricht, den Judith Schalansky hier vorgelegt hat, sondern ein Atlas zur Erkundung der Träume, der Phantasie und der verborgenen Schatzkarten des eigenen Geistes. 50 Inseln nimmt sie sich vor, verstreut über die ewige Meeresfläche des Globus, eine ganz subjektive Auswahl der Skurrilitäten, Kalamitäten, Brutalitäten und sonstiger (Süd-)See-Episoden. Allen gemeinsam ist, wie schon der Untertitel des Buches ankündigt: »Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und auch niemals sein werde.« Und, wie Judith Schalansky später im Interview bekennt: Auch niemals sein will.
Denn: »An den Rändern der endlosen Erdkugel lockt kein unberührter Garten Eden. Stattdessen werden die weitgereisten Menschen hier zu den Monstern, die sie in mühevoller Entdeckungsarbeit von den Karten verdrängt haben … Jedoch sind es gerade die schrecklichen Begebenheiten, die das größte erzählerische Potenzial haben und für die Inseln der perfekte Handlungsort sind … Die Insel ist ein theatralischer Ort: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zu literarischem Stoff …«
So schreibt sie im Vorwort. Und so meint sie es auch. Ihre Texte sind keine Dokumentationen, und sie fühlen sich weder der Wahrheit noch der Nachprüfbarkeit verpflichtet. Es sind vielmehr literarische Miniaturen, die, mal mehr, mal weniger gelungen, sich in der regenverhangenen, trügerischen Scheinwelt der tropischen Inseln auf Streifzug begeben, und dabei so allerhand zu Tage fördern. Nicht immer ist es Brutales, Schändliches oder Aberwitziges. Manchmal ist es auch einfach nur ein wenig Poesie: »Südlich vom Kapland dehnt sich ein weites Meer, ozeanografisch noch unerforscht. Gleich hinter der Agulhas-Bank brechen alle Lotungen ab. Mit weißen Tropenanstrich steuert die Valdivia nach Süden, nimmt einen Kurs, den seit mehr als 20 Jahren kein Schiff wählte … Das Barometer fällt, der Wind erhebt sich zu schwerem Sturm, zehn Beaufort stark, und zwingt sie, beizudrehen. Der Himmel verdunkelt sich, und Sturmvögel ziehen auf, die ersten aschgrauen Albatrosse mit geschwärzten Köpfen und weiß geränderten Augenlidern, Vampire, die in gespenstisch ruhigen Kurven um das schwer arbeitende Schiff kreisen …«
Manchmal ist es auch wirklich Skurriles und Unglaubliches, wie die Geschichte des kleinen Jungen aus dem französischen Luxueil-les-Bains, Marc Liblin, Sohn eines Schmieds, der in seinen Träumen eine völlig unbekannte, fremde Sprache erfährt und erlernt, die niemand sonst kennt und niemand spricht. Jahrzehnte später helfen ihm Wissenschaftler der Universität Rennes, das Rätsel zu ergründen. In einer Hafenkneipe werden sie fündig: Der Mann hinter dem Tresen, ein ehemaliger Marinesoldat, sagt, er kenne diesen Zungenschlag, und zwar von Rapa Iti, der einsamsten aller polynesischen Inseln. Und er kenne sogar ein Frau in der Nähe, die Geschiedene eines Militärs, die genauso spreche. Die Begegnung mit ihr verändert Marc Liblins Leben: »Meretuini Make öffnet die Tür, er begrüßt sie in seiner Sprache, und sie antwortet sofort in dem alten Rapa ihrer Heimat.« Später heiratet Marc, inzwischen ein Mittvierziger, die einzige Frau, die ihn versteht und geht mit ihr 1983 auf die Insel, auf der seine Sprache gesprochen wird. Als Marc Liblin 1998 dort stirbt, wird er, so heißt es, als ›Einstein‹ der Insel verehrt.
Eine Geschichte – die Quellen, die man dazu finden kann, sind dünn gesät – so unglaublich wie romantisch, abwegig, sonderbar, und doch vielleicht möglich. Irgendwo im Zwischenreich zwischen dem realen Leben des Festlands und dem Ungewissen der verlorenen Eilande. So sind diese Storys.
Was das Buch, neben den vielfach gelungenen Texten aber vor allem auszeichnet, ist die wunderbare, beständige und qualitätvolle Aufmachung des Bandes: Ein solider Leinenband mit aprikosefarbenen Buchschnitt, durchgehend in fünf Sonderfarben auf hochwertigem Papier gedruckt, und mit unendlich vielen kleinen Details, die die echte Hingabe an das Werk und die echte Buchmacherkunst erkennen lassen.
Auf jeder Doppelseite findet sich rechts eine erstklassige kartographische Darstellung der beschriebenen Insel, durchgehend im ganzen Buch im selben Maßstab 1 : 125.000, links der dazugehörige Text und weitere Infos wie die relative Lage im Ozean und die Entfernung zu den nächstgelegenen Inseln. Die Aufmachung, die Optik, die graphische Aufbereitung der Zusatzinformationen, die Systematik und Gliederung der Inselgruppen sowie die hervorragenden topographischen Karten – besser kann man das nicht machen. Judith Schalansky hat dabei nicht nur die Texte verfasst, sondern auch Illustration, Gestaltung und Satz besorgt. Und somit ein Werk aus einem Guss geschaffen, wie man es heute selten zu Gesicht bekommt.
[Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse erhalten der mare-Verlag und Judith Schalansky am 7. Oktober 2010 den ›Preis der Stiftung Buchkunst‹, der seit 1984 jährlich vergeben wird. Preiswürdig sind Bücher, die ›ein außerordentlich hohes Engagement des Verlages und aller an der Herstellung Beteiligten zeigen und die in ihrer Ausstattung und Gestaltung Impulse für die moderne Buchgestaltung geben.‹]Interview mit Judith Schalansky
Armin Fischer: Frau Schalansky, wann haben Sie Ihre Liebe zur Typografie (und zum Buchdesign) entdeckt?
Judith Schalansky: Im Studium. Ich habe Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign studiert. Und bei letzterem hat mich dann doch das Medium Buch am meisten interessiert. Es ist ein fantastisches Medium. Für mich das schönste und bewundernswerteste.
Fischer: Was ist für Sie das wichtigste Prinzip bei der Gestaltung einer Buchseite/eines Covers?
Schalansky: Angemessenheit. Die Angemessenheit zwischen Form und Inhalt. Und natürlich Sorgfältigkeit im Detail, gerade was die Typografie angeht. Da gibt es Regeln, an die man sich halten muss. Echte Kapitälchen. Sowas.
Fischer: Üblicherweise haben Autoren so gut wie keinen Einfluss auf die Buchgestaltung. Was raten Sie einem Autor, dem das Äussere seines Buches nicht ganz unwichtig ist?
Schalansky: Zu glauben, es gäbe eine Inhalt ohne Form, ist töricht. Natürlich geht es den meisten erst einmal um so etwas Ideales wie den ›reinen Text‹. Aber natürlich ist sehr wichtig, in welcher Form dieser Text den Lesern begegnet. Und hier geht es eben wie bei allen guten Begegnungen auch wieder vor allem um Angemessenheit. Die kann durchaus maßlos ausfallen, aber auch bescheiden.
Fischer: Ich präzisiere nochmal: Ich meinte, die meisten Autoren haben kaum Einfluss auf die Buchgestaltung, nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil die Verlage es in der Regel kaum zulassen, sondern am liebsten nach ihren mehr oder weniger bewährten Strickmustern vorgehen. Was raten Sie so einem Autor, der sich durchaus Gedanken um Inhalt und Form macht? Oder anders gefragt, wie haben Sie es geschafft, Ihr Buch so autonom und selbstbestimmt umzusetzen? War dazu Überzeugungsarbeit nötig?
Schalansky: Das eine hat ja schon mit dem anderen zu tun. Damit, ein Bewusstsein für die Form zu entwickeln. Sich Gedanken zu machen, ist das Eine. Die Urteilsfähigkeit zu haben, das andere. Ich bin ja gewissermaßen ein Sonderfall. Ich bin ausgebildete Buchgestalterin, also vom Fach. Selbermachen ist da natürlich naheliegender als Reinreden. Und der mare-Verleger Nikolaus Gelpke hat daran geglaubt, daran, dass meine Freiheit und Selbstbestimmtheit eben genau das Richtige für dieses Buchprojekt ist.
Fischer: Woran erkennen Sie optisch ein gutes Buch?
Schalansky: An der Liebe zum Detail. In der Mikrotypografie, in der Verarbeitung und – ganz wichtig – am Papier.
Und schließlich noch zum Inhalt des ›Atlas‹
Fischer: Wie und wann kam Ihnen die Idee zu diesem Atlas?
Schalansky: Es gab viele Momente, die diese Idee hervorgebracht haben: die Obsession für die Zwischenräume des Meeres, die Liebe zu Büchern und alten Karten, der Wunsch, ein Buch zu machen, das alle Gattungen unterläuft, das beweist, dass Atlanten poetische Bücher sind …
Fischer: Wenn Sie sich aussuchen könnten, bzw, dazu verdonnert würden, wie mans nimmt, auf einer der Inseln den Rest Ihres Lebens zu verbringen – welche würden Sie wählen?
Schalansky: Puh. Wie gesagt: Ich möchte dort tatsächlich nicht hin. Wahrscheinlich würde ich mir Pukapuka aussuchen, ein Atoll im Pazifischen Ozean, wo man sehr ungezwungen und freizügig leben soll, eine der wenigen Inseln mit Paradiespotenzial in meinem Buch.
Fischer: Ist auch eine Insel dabei, auf der Sie gern Urlaub machen würden, für 2 oder 3 Wochen?
Schalansky: Die Campbell-Insel sieht auf der Karte so schön aus. Fjorde und zerfranste Küste. Das schottische Eiland St. Kilda sieht allerdings auf Fotos auch betörend aus, schroff und grün, und hat den Vorteil, nicht so wahnsinnig weit weg zu sein.
Liebe Judith Schalansky, danke fürs Gespräch!
(armin fischer)
[Judith Schalansky, geboren 1980 in Greifswald, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Sie lebt als freie Autorin und Gestalterin in Berlin und lehrt in Potsdam typografische Grundlagen.]
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